Die Anstrengung weglächeln
Dass Karneval anstrengend ist, hatte ich geahnt. Aber dass es Hochleistungssport sein kann, weiß ich erst, seitdem ich beim Training der Goldenen Kooben war.
Mit Karneval kenne ich mich noch weniger aus, als mit anderen Sportarten. Deshalb hätte ich argwöhnisch werden müssen, als der Backes Herrmann mich grinsend überredete, mir die Tanzsportgruppe des Karnevals-Clubs Grün-Weiß Euren 1979 e.V. anzusehen. Ich wusste natürlich nicht, dass die Goldenen Kooben eine Art Spezialeinheit des Gardetanzes sind: Die besten Solo-Mariechen der Trierer Karnevalsvereine treffen sich als Gardetanz-Elite; die Kooben sind sozusagen das SEK der Funkenmariechen, oder poetischer: Die Glorreichen Sieben der Trierer Karnevalsszene. Nur dass es mehr als sieben sind. Und ausnahmslos Frauen. Wunderschöne Frauen. Aber auch Frauen, die mir Angst machen, denn zum „lockeren Aufwärm-Dehnen“ treten sie sich schon mal mit dem Fuß gegen den Scheitel (den eigenen, normalerweise). Versuchen Sie das bitte nicht nachzumachen!
Wer sich schlecht gedehnt fühlt, wird von der Trainerin Sabine Herschler an die Wand gestellt. Rücken fest an der Holzvertäflung der Ehranger Grundschul-Turnhalle. Dann biegt die Trainerin den Fuß der jeweiligen Gardistin um 180 Grad bis neben deren Ohr, mit dem dazugehörigen Bein dran, natürlich, und ohne dass der Oberhalsknochen aus dem Becken ploppt. Diese Übung, die die Gardistinnen klaglos über sich ergehen lassen, wäre andernorts ein Fall für Amnesty International. Hoffentlich verirrt sich nie eine Menschenrechtsdelegation in Ehranger Turnhallen. Was sonstwo als Folter angeprangert würde, gilt bei den Kooben allerdings als Spaß.
Was sind überhaupt Kooben? Wer Trierisch kann, weiß: das sind Raben und das Wahrzeichen von Euren. Wieso sie das sind, weiß kein Mensch. Vielleicht haben die Eurener früher geklaut wie die Raben oder es gab dort haufenweise Rabeneltern? Fairerweise muss man sagen, dass Raben die intelligentesten Vögel sind. Das gleiche kann man von manchen Turnieransagern nicht behaupten. Wenn die Kooben zu Karnevalstanzsport-Wettkämpfen durch die Bundesländer touren, kommt es vor, dass sie folgendermaßen angekündigt werden: „Und hier kommen die, äh, Goldenen Kolben aus, äh, Koben!“
Daran sieht man, dass es nicht reicht, fünfmal in Serie (2010-2014) die Landesmeisterschaft im Gardetanz zu gewinnen (die Kooben sind sozusagen der FC Bayern des rheinland-pfälzischen Karneval-Tanzsports). Das Ziel, irgendwann einmal Süddeutscher Meister zu werden, soll auch dazu beitragen, dass die Turnieransager lernen, was Kooben sind, und wo Euren liegt.
Zurück zur Trainerin: Sie kennen aus einschlägigen Filmen doch sicher amerikanische Drill-Sergeants? Auf Deutsch heißen die „Hauptfeldwebel“, brüllen ständig herum und gucken mürrisch. Trotzdem ist ein Exerziertraining, und das parodiert der Gardetanz ja, ein Sonntagsspaziergang im Vergleich zu Sabines Gardetanzübungen. Allerdings muss man sagen, dass die Trainerin ihre Anweisungen: „Manuela, zu früh aus der Hocke aufgestanden“ oder „Kathrin, du warst zu spät“ mit sanfter, mutmachender Stimme gibt. Und mit einem Lächeln.
Apropos Lächeln. Genau das wird knallhart trainiert: Das schmerzunempfindliche Dauerlächeln. „Zu spät gelächelt, Lena, Jenny!“, ruft Sabine, als die Gardistinnen den Aufmarsch (oder heißt es „Einmarsch“?) üben. Bei einem Tanzturnier, aber auch bei Kappensitzungsauftritten ist charmantes Dauerlächeln gefragt. Obwohl die Mädels nach jedem Tanz-Durchgang keuchend am Boden liegen, muss der Gardetanz unangestrengt wirken.
„Muss Lächeln wirklich trainiert werden?“, frage ich Sarah, die mir zuraunt: „Und ob! Bis zum Muskelkater der Lachmuskulatur!“ Das passt doch: Lachmuskelkater zu Karneval. Allerdings sieht Sarah mich verständnislos an, als ich sage: „Und ihr müsst das Dauerlächeln sogar unter verschärften Bedingungen üben“, denn während des Lächel-Trainings läuft Helene Fischers „Atemlos“. Dieser Titel spiegelt thematisch allerdings aufs Treffendste Herschlers Trainingskonzept wider.
Wahrscheinlich bin ich künftig verunsichert, wenn mich in der Fußgängerzone eine Frau anlächelt, weil ich dann denke: Vorsicht, das ist vielleicht eine Koobe, die hat das geübt! Immerhin sehe ich, dass jedes der Mädels neben dem Garde-Lächeln ein noch viel schöneres privates Lächeln hat, nur leider ist das nicht wettkampf- und jurytauglich.
Die Wettkampf-Version des Gardetanzes wird mehrmals durchgeprobt, und da es bislang erst eine Leichtverletzte gibt, werden Einzelelemente geübt, wie z.B. das In-Reihe-Gehen, das man ja von der Bundeswehr kennt. Aber ach, was ist das bei unseren Soldaten für ein Gestolpere im Vergleich zu den Kooben. Die Beinbewegungen aller Gardistinnen ergeben exakt denselben Winkel, und jedes einzelne Kinn ist auf derselben (gedachten) Linie. Wenn mein Nachbar, der Meier Kurt, demnächst seine Gartenmauer erneuert, empfehle ich ihm, statt Richtlatte und Bleiwaage lieber die Kooben-Garde zu nehmen und eine Bauschnur die Kinne der Gardistinnen entlangzuziehen. Perfekter kriegt er die Linie mit der Bleiwaage auch nicht hin. Apropos perfekt: Bei den Trainingsdurchläufen sehe ich ausschließlich Perfektion: Sämtliche Bewegungen erscheinen mir absolut synchron. Aber die Trainerin entdeckt noch Fehler, zum Beispiel beim Rad-Spagat.
Überhaupt der Spagat: Ein heikles Thema, das ich am liebsten umgehen würde. Der Saarländer an sich, zumal der männliche, neigt ja von Natur aus nicht zum Spagat. Trotzdem behauptet Janina, die Co-Trainerin, dass selbst ich, bei regelmäßigem Üben, nach zwei bis drei Jahren einen Spagat hinbekäme. Aber will ich das? Meine Oma sagte immer, wenn sie sich im Fernsehen Karnevalsveranstaltungen ansah: „Zu der kalten Jahreszeit im kurzen Röckchen dauernd Spagat machen, das kann nicht gut sein für die Eierstöcke!“ Die Eierstöcke wären bei mir jetzt nicht so das Problem. Dennoch widerstrebt mir das Prinzip des Rad-Spagats. Hierbei springt man, wie Sie sicher bereits befürchten, aus dem Radschlagen direkt in den Spagat!
Bei dieser Übung verletzt sich eine weitere Gardistin (am Handgelenk) und kann nicht weitertrainieren. Wenn so etwas bei einer Wettkampf-Aufführung passiert, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder unter Schmerzen und Dauerlächeln bis zum Ende durchtanzen, oder die Verletzte muss irgendwie von der Bühne runter. Sekundenlanges Verletzt-auf-der-Bühne-Herumliegen ist nicht vorgesehen. Das gibt Punktabzüge oder führt beim Turnier zur Disqualifikation. Die Marines haben wenigstens Sanitäter, die dich vom Schlachtfeld holen!
Mit „It’s a long Way to Tipperary“ wird der Abmarsch geübt. Die Kooben wirken abgekämpft und müdegelächelt. Aber die Trainerin ist zufrieden und lobt die Leistung.
Ich bin froh, dass ich die Goldenen Kooben persönlich kennenlernen durfte. Zwar ist im Training einheitliches Schwarz Pflicht, aber bei Wettkämpfen und Auftritten erscheinen alle komplett uniformiert, in maßgeschneiderten grün-weiß-goldenen Kostümen, mit identischen Perücken und Hüten, die bis auf den Zentimeter genau gleich in die Stirn gezogen werden müssen. Dann sind die Mädels nicht mehr als Individuen zu erkennen. Auf der Bühne soll und will keine von ihnen hervorstechen, denn beim Gardetanz wirken sie wie ein einziger Organismus. Oder wie ein umherschwirrender Schwarm goldener Kooben.