Im Bermudatriereck
Neulich beobachtete ich, wie zwei holländische Touristen in der Gangolfstraße verschwanden. Für IMMER, vermutete ich.
Die Würfel sind gefallen: Nachdem ich seit einem Jahr versuche, den passenden Trierer Verein zu finden, macht der Backes Herrmann jetzt Nägel mit Köpfen und gründet selbst einen. „So wird das nix“, meinte er. „Vom Rugbyspielen übers Gewichtheben, vom Boulen übers Aquariumsfischezüchten, Boxen und Cheerleaden hast du alles ausprobiert. Funkenmariechen bei den Kooben willste auch nicht werden. Bei den Viezbrüdern warst du immerhin nah dran, deinen Verein zu finden. Aber ich sehe, ich muss das selbst in die Hand nehmen.“
Erst wollte der Herrmann den Trierer Briefmarkensammler e.V. gründen. Aus nicht ganz unegoistischen Gründen. „Briefmarkensammlung geht immer“, behauptet er. Angeblich hat er schon etliche Frauen mit dem Versprechen, ihnen seine Briefmarkensammlung zu zeigen, in seine Junggesellenbude gelockt. Der Trick besteht darin, dass Herrmanns gesamte Sammlung aus etwa drei Briefmarken besteht. Die sind schnell geguckt, und ab dann improvisiert der Herrmann eben. Ich interessiere mich nicht für Briefmarken, und daher schlug der Herrmann den Aale-und-Eulen-Beobachtungsverein-Ruwertal vor. „Da kämen wir auch mal raus aus Trier!“, meinte er.
Im Ruwertal gibt’s noch beides, Aale und Eulen. Und wenn man weiß wo, ist so eine Aal- und Eulenbeobachtung rasch erledigt: Zur Ruwer fahren, Aal gesehen, Eule entdeckt: fertig! Dann kann man in Ruhe beim Ruwerwinzer einkehren und die frisch unter Beweis gestellte Gemeinnützigkeit feiern. Aber wie sich herausstellte, gibt es den Verein schon, und wir wollen niemandem Konkurrenz machen. Also gründen wir den Einträchtig-bei-einem-Getränk-rumsitzen e.V. Hätten wir längst tun sollen! Der Meier Kurt ist auch dabei, und et Hildegard wird inaktives Mitglied.
„Wo führt diese Gangolfstraße eigentlich hin“
Um diese Idee zu feiern, sitzen wir gerade gemütlich vor einem Café am oberen Ende des Kornmarktes und sehen den letzten Schneeflocken des Winters beim Vom-Himmel-in-die-Biergläser-fallen zu. Da beobachte ich, wie ein holländisches Ehepaar die Köpfe über einen ausgefalteten Stadtplan beugt und sich vernehmlich streitet. Finger, die eben noch auf die Karte zeigten, deuten jetzt aufgeregt mal runter in Richtung alter Post, mal rauf zur Konstantinbasilika. Schließlich einigt sich das Paar, rechts abzubiegen, in die Gangolfstraße. Herrmanns Gesicht zuckt kurz, als ob ihn etwas schmerzt – seine Das-ist-keine-gute-Idee-Miene. Wir trinken ein Bier, dann noch eins. Die Holländer tauchen nicht wieder auf. „Wo führt diese Gangolfstraße eigentlich hin“, frage ich. „Nirgendwohin“, antwortet Herrmann.
Was ist eigentlich ein Gangolf? Nun, das ist ein Heiliger, den man nicht verspotten darf, weil man sonst zum laut Furzen verdammt ist. Gangolfs untreue Ehefrau (ja, man kann heilig UND verheiratet sein, was am besten funktioniert, wenn die Gattin ein Drache ist) soll am Grab ihres Mannes dessen angebliche Wundertaten verspottet haben. Zur Strafe lösten sich sogleich und fortan an jedem Gangolf-Todestag unanständige Geräusche aus ihrem Hintern. Aber Furzflüche sind nicht das Hauptaufgabenresort Gangolfs. In erster Linie ist er Schutzpatron für Pferde und Helfer bei Augen-, Haut- und Gelenkkrankheiten.
Gute Augen und fitte Gelenke braucht man allerdings, wenn man sich in die Gangolfstraße verirrt. Sie liegt zwar mitten im Zentrum von Trier, zentraler geht’s nicht, aber sie führt nicht, wie man aufgrund des Namens annehmen könnte, zur Gangolfkirche – allenfalls zu ihrer Rückseite. Ansonsten gibt’s in der Gangolfstraße: nichts. Keine Kneipen, keine Geschäfte, nicht einmal Sitzbänke für gelenkkranke Touristen. Ich stelle mir verzweifelte Holländer vor, wie sie beim Versuch, zum Hauptmarkt durchzubrechen, immer wieder von der Rückwand der Gangolfkirche abprallen.
Wieder zwei Tagestouristen für immer verloren?
Während wir unserer Vereinsaufgabe nachkommen und einträchtig bei einem weiteren Getränk herumsitzen, biegen zwei desorientierte, mit Einkaufstaschen beladene Frauen in die Gangolfstraße ab. Oha, wieder zwei Tagestouristen für immer verloren? Offensichtlich handelt es sich um Südsaarländerinnen:
„Guck mol, komme mir do dursch zerick zum Hauptmarkt?“
„Isch glaab net, das iss doch en Innbahnschtrooß.“
„Ei, das gilt doch nur fir Audos, ze Fuß komme mir do beschdimmt dursch.“
Aha, darin besteht also der Denkfehler: Dieses Trierer Bermudadreieck ist zwar als Sackgasse ausgewiesen, aber da man von der Ecke Kornmarkt/Johann-Philipp-Straße aus bereits den Kirchturm sieht, glaubt man als Fußgänger durchzukommen. Die Stadt sollte unbedingt Riesenschilder am Eingang der Sackgasse aufstellen: „Gehen Sie hier nicht rein!“, vielleicht sogar mit dem Zusatz: „Gilt auch für Holländer und Südsaarländerinnen!“
Welches Schicksal erwartet die Verlorenen?
Ich glaube, GPS-Apps wurden extra für Menschen erfunden, die aus Versehen in die Gangolfstraße geraten. Aber die Holländer haben nur ihre Straßenkarte. Und die Saarländerinnen nur die Einkaufstaschen. Welches Schicksal erwartet diese Verlorenen? Türmen sich am Ende der Sackgasse bereits die ausgeblichenen Gebeine ortsunkundiger Touristen auf? Oder gibt es Hilfe für die Verirrten? Vielleicht sollten wir lieber den Tagestouristen-aus-der-Gangolfstraße-retten-e.V. gründen.
Wohnt überhaupt irgendjemand in der Gangolfstraße? Und falls ja, wieso? Ich kenne nicht mal einen, der einen kennt, der jemals dort wohnte. Außer den Stölbs Marcus natürlich, der aber auch nicht richtig in der Gangolfstraße wohnte, sondern dort ein Büro hatte. Wahrscheinlich musste er es aufgeben, weil dauernd verzweifelte Südsaarländerinnen an seine Tür hämmerten.
Da kommen die Saarländerinnen wieder zurück, die Einkaufstaschen noch fest im Griff. Saarländer mögen zwar orientierungslos sein, finden aber immer wieder den Weg zurück, indem sie instinktsicher den Essensgerüchen der Fußgängerzone folgen. So rettet das Hauptsach-gudd-gess-Prinzip manches saarländische Leben. Aber das holländische Paar taucht nicht wieder auf. Vielleicht haben sie ja doch einen geheimen Weg zum Hauptmarkt gefunden?
Der Zweck der Sackgasse
Da kommt zufällig eine ehemalige Freundin vom Herrmann vorbei: „Hallo, was macht ihr denn da?“ – „Einträchtig bei einem Getränk rumsitzen! Und die Gangolfstraße beobachten. Zwei Holländer sind vor einer halben Stunde dort abgebogen und nicht wieder zurückgekehrt.“ Herrmanns Ehemalige erklärt lachend, dass sie in einem der Geschäfte in der Brotstraße gearbeitet hat, und dass das Personal von hinten in die Geschäfte kommt. Das also ist der Zweck dieser Sackgasse: Der Bediensteteneingang für die Geschäfte rund um den Hauptmarkt! „Und manchmal“, erklärt uns Herrmanns Ex, „wenn ich hinterm Laden eine geraucht hab, hab ich ‘nen versprengten Touri aus der Sackgasse wieder rausgelotst, oder gleich durchs Geschäft zurück in die Fußgängerzone geführt. Aus Dankbarkeit haben die meisten noch was im Laden gekauft!“
Gott sei Dank. Wir können unbeschwert mit dem gemütlich Rumsitzen weitermachen. Keine auf ewig Verlorenen, keine Holländergebeine, die erst in Jahren gefunden werden. Irgendwie führt immer ein Weg aus dem Trierer Bermudadreieck zurück zum Haupt- oder Kornmarkt.
Nachbemerkung: Um die Vereinskasse aufzufüllen, überlegt der Herrmann, eine Imbissbude am Ende der Gangolfstraße einzurichten. Zumindest mit den Saarländern könnte man da sicher einen Mordsreibach machen.