„Wichtig für meine gesellschaftspolitische Orientierung“

„Nell-Breuning und Marx wären sich in der Analyse der gegenwärtigen Ökonomie sofort einig gewesen“, sagt Heiner Geißler. An diesem Freitag wird ihm im Kurfürstlichen Palais für sein Lebenswerk der Oswald-von-Nell-Breuning-Preis der Stadt Trier überreicht. Galt der CDU-Politiker in den 70er Jahren noch als konservativer Scharfmacher, so tritt er heute als Kapitalismuskritiker und Vertreter einer alternativen Weltwirtschaftsordnung auf. Mit 16 VOR sprach der 85-Jährige über die „wichtigste Persönlichkeit für meine gesellschaftspolitische Orientierung und sozialpolitische Zielsetzung“, über die Wandlung der CDU und die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft.

16 VOR: Schauen Sie selbst noch bei Ihrem Weinberg vorbei?

Heiner Geißler: Ja, regelmäßig. Die Reben gehören für mich zu den wundervollsten Pflanzen, nicht nur wegen der Trauben, sondern weil sie sich zum Frühjahr in kurzer Zeit in ihrer ganzen Fülle entfalten.

16 VOR: Zehn Jahre lang gehörten Sie dem rheinland-pfälzischen Landeskabinett an. Kannten Sie Trier schon vorher? Für das von Jesuiten geleitete Kolleg St. Blasien, das Sie besuchten, muß die Stadt doch ein beliebtes Ausflugs- oder Wallfahrtsziel gewesen sein, oder nicht?

Geißler: Natürlich kannte ich die Stadt schon vorher. Aber ich habe 1949 mein Abitur gemacht und bis dahin waren solche Ausflüge schon aus finanziellen Gründen nicht möglich. Später als Minister waren für mich Investitionen im Sozial- und Gesundheitsbereich, zum Beispiel ins Brüderkrankenhaus, sehr wichtig.

16 VOR: Erinnern Sie sich noch an Ihre letzte Begegnung mit Oswald von Nell-Breuning und daran, worum es dabei ging?

Geißler: Bei der Festveranstaltung, die zu seinem 100. Geburtstag in Frankfurt stattfand, sagte er als Motiv und Resümee seines Lebens, dass er versucht habe, das Unrecht wett zu machen, das seine Kirche im 19. Jahrhundert der Arbeiterschaft angetan habe.

16 VOR: Welchen Stellenwert hatte er für Ihr Leben?

Geißler: Ich habe ihn nicht so oft gesehen wie Norbert Blüm (Preisträger 2011), der sein Schüler und Freund war. Aber er war als Schöpfer der Katholischen Soziallehre die wichtigste Persönlichkeit für meine gesellschaftspolitische Orientierung und sozialpolitische Zielsetzung.

16 VOR: Neben Nell-Breuning ist in Trier noch ein anderer bekannter Wirtschaftsphilosoph geboren. Denken Sie, Marx und Nell-Breuning wären auf einen gemeinsamen Nenner gekommen, hätten sie sich getroffen?

Geißler: In der Analyse der jetzigen Ökonomie wären sie sich sofort einig gewesen. Eine entscheidende Passage im kommunistischen Manifest lautete: „Das Kapital hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.“ Das hätte Nell-Breuning auch über das heutige Wirtschaftssystem sagen können.

16 VOR: Die katholische Soziallehre Nell-Breunings hatte großen Einfluss auf die Formulierung des Modells der „Sozialen Marktwirtschaft“. Was bedeutet für Sie Soziale Marktwirtschaft in der heutigen Zeit?

Geißler: Die Soziale Marktwirtschaft ist der Weg der Mitte zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Ihre Kennzeichen sind geordneter Wettbewerb sowie Wohlstand und Gerechtigkeit für alle.

„Wir brauchen eine internationale ökologische und soziale Marktwirtschaft“

16 VOR: Ist das Modell der „Sozialen Marktwirtschaft“ in Zeiten des globalisierten Turbokapitalismus und des Bedeutungsverlusts nationalstaatlicher Regulierung überhaupt überlebensfähig?

Geißler: Sie ist die einzige humane, geistige und moralische Alternative zur immer weiter voranschreitenden Ökonomisierung der menschlichen Gesellschaft. Die Humanisierung des Globalisierungsprozesses braucht als Leitidee eine internationale ökologische und soziale Marktwirtschaft.

16 VOR: Nell-Breuning ging davon aus, dass zur Deckung des Konsumgüterbedarfs rein güterwirtschaftlich ein Arbeitstag pro Woche ausreichen würde. Verschwendet die bestehende Gesellschaftsordnung ihr Potenzial sozusagen „im Hamsterrad des Kapitalismus“?

Geißler: Es war die mathematische Formulierung des Existenzminimums, aber natürlich nicht seine Konzeption einer humanen und sozial gerechten Gesellschaftsordnung, brachte aber zum Ausdruck, dass das Bruttosozialprodukt nicht der Maßstab des menschlichen Lebens sein könne. Es erfasst nicht die Gesundheit der Kinder, nicht die Qualität ihrer Schulen und nicht ihre Freude beim Spielen. Es spiegelt weder die Schönheit unserer Dichtung noch das Glück der Liebe wider, es sagt nichts aus über das Niveau unserer politischen Diskussion oder die Integrität unserer Politiker. Es misst weder unseren Mut noch unsere Weisheit noch die Hingabe an unser Land.

16 VOR: Sie haben oft davon gesprochen, der Finanzmarkt-Kapitalismus in seiner heutigen Form bedrohe die gesellschaftliche Solidarität. Welchen Ausweg aus diesem Dilemma schlagen sie vor?

Geißler: Wir brauchen endlich eine politische Union Europas, die zusammen mit den USA den Hoffnungen der Weltbevölkerung entsprechen kann: die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte, eine Demokratisierung aller Staaten dieser Erde, eine grundlegende Reform der Finanzmärkte durch eine internationale Finanztransaktionssteuer, d. h. eine neue Weltwirtschaftsordnung durch die Idee einer internationalen öko-sozialen Marktwirtschaft, verbunden mit einem globalen Marshallplan und einem Online-Universum, in dem die Menschenwürde nicht angetastet wird.

„Die CDU ist keine aufgeblasene FDP“

16 VOR: Konservative Unionspolitiker wie Hans-Peter Friedrich sehen im Reformkurs der Bundeskanzlerin eine Abkehr von konservativen Werten und geben ihr eine Mitschuld am Erstarken von Kräften rechts von den Christdemokraten. Empfinden Sie diesen Vorwurf als gerechtfertigt? Oder könnte man stattdessen behaupten, die wachsende soziale Ungleichheit trage eine Mitschuld am Erfolg von ressentimentgetriebenen Protestbewegungen wie PEGIDA?

Geißler: Ich hoffe nicht, dass Hans-Peter Friedrich zu den CDU/CSU-Piusbrüdern gehört, die offensichtlich lieber den Präfekten der Glaubenskongregation in Rom Gerhard Müller zum Kanzler hätten als Angela Merkel. Diese – allerdings nicht sehr zahlreichen Leute – erregen sich ständig, weil sie die Kanzlerin offenbar bei dem unerlaubten Versuch ertappt haben, neue Wähler zu gewinnen, zum Beispiel junge urbane Schichten des Bürgertums, moderne Familien mit gleichberechtigten berufstätigen Frauen und kindererziehenden Männern, ökologisch bewusste Menschen, die eine humane Perspektive für ihr Leben erwarten. Die CDU ist etwas anderes als die britische Tory-Partei, keine aufgeblasene FDP, sie ist kein Sammelsurium aus Konservativen, Liberalen und Christlichsozialen, sondern sie hat ein eigenes christlich-demokratisches Profil und eigene Inhalte.

16 VOR: Hätten Sie sich in Ihrer Zeit als Sozial- oder Familienminister die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vorstellen können? Wie stehen Sie heute zu seiner Einführung?

Geißler: In meiner Zeit als Zentralschlichter im Bauhauptgewerbe von 1998 bis 2005 wurde der erste Mindestlohn für Bauarbeiter und Baufacharbeiter beschlossen. Der Mindestlohn von 8,50 Euro kann das Existenzminimum nicht sichern. Er ist aber ein Schutz der gesetzes- und tariftreuen Unternehmer vor der Schmutzkonkurrenz der Firmen, die durch Sozialabbau und Lohndumping den geordneten und fairen Wettbewerb zerstören. Deshalb ist der Mindestlohn unverzichtbar für die Soziale Marktwirtschaft.

16 VOR: Welche Herausforderungen sehen Sie auf die Sozialpolitik in den nächsten 20 Jahren zukommen?

Geißler: Die Sozialpolitik wird auch in Zukunft immer wieder unter sozialen Druck geraten. Aber gerade die Wirtschafts- und Finanzpolitiker müssen erkennen, daß der soziale Friede in einer Industrienation ein wichtiger Produktionsfaktor ist. Exportweltmeister sind wir auch deswegen, weil die Qualität der Produkte unserer Exportwirtschaft mit der Qualität der Arbeitnehmer in diesen Branchen und ihrer hohen Löhne unmittelbar zusammenhängt. Es gibt keine freiheitliche Gesellschaft ohne Solidarität und soziale Gerechtigkeit, so wie umgekehrt nur in einer solidarischen Gesellschaft Freiheit der Menschen möglich ist.

16 VOR: Oswald von Nell-Breuning wurde 101 Jahre alt. Ist das ein Alter, das auch Sie anpeilen?

Geißler: Ich möchte ein solches Alter nur erreichen, wenn ich geistig so frisch bleiben kann, wie es Oswald von Nell-Breuning bis zu seinem Tod war.

TOBIAS MAIER

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