Meyer und Marx: Chinesen zählen

„Sag mir, wo die Chinesen sind“, meint der Backes Herrmann. „Angeblich müsste die Stadt doch voll von ihnen sein, wegen des Karl-Marx-Jahres.“
„Nun ja, wahrscheinlich gibt’s in der Fußgängerzone immer noch deutlich mehr Einkaufstouristen aus dem Nordsaarland und der Südeifel, aber es sind doch bestimmt auch hunderte Chinesen …“
„Ich sehe keine!“
„Wo siehst du keine?“
„Nirgends.“
„Du siehst nirgends keine Chinesen in der Stadt?“, versuche ich den Herrmann zu foppen. Aber ich merke, dass ihm die Angelegenheit ernst ist und schlage vor: „Also gut, lass uns in die Fußgängerzone gehen und Chinesen zählen.“

Wir setzen uns zunächst neben die Marx-Statue und erheben dort eine interessante Statistik: Innerhalb von 15 Minuten lassen sich 16 Personen vor und mit dem Bronze-Oschi fotografieren. Einige versuchen vergeblich, ein Selfie von sich und Marx zu machen, müssen aber feststellen, dass Selfies mit einer 5,50 Meter hohen Statue nur etwas für die gehobene Fototechnik ist, und bitten einen der Umstehenden, sie abzulichten.

Der Durchschnitt von einem Foto mit Marx pro Minute (an einem Mittwochnachmittag kurz nach vier) beeindruckt uns zwar, aber: Keine Chinesen zu sehen. Also schlendern wir durch die Fußgängerzone, um Chinesen zu sammeln. Bis zum Kornmarkt kommen wir auf: acht. Also nicht etwa acht Gruppen. Genau acht Chinesen, in drei unabhängigen Kleingruppen. Größere Reisegruppen entdecken wir keine, die wenigen Exemplare sind offensichtlich chinesische Individualreisende. „Vielleicht ist heute chinesischer Nationalfeiertag, oder China spielt gerade gegen … Nee, die sind ja nicht bei der WM. Oder vielleicht essen sie um diese Zeit alle.“

Wir beschließen, die Mission „Chinesen zählen“ (oder eher: „Chinesen suchen“) am nächsten Tag zu wiederholen und verabreden uns für vormittags um elf. Vielleicht ist das eine günstigere Zeit. Ergebnis: Von der Porta bis zum Karl-Marx-Haus steigern wir uns diesmal auf neun (zwei Dreiergruppen und eine Vierergruppe).

„Da sind noch zwei“, sagt der Herrmann, eher lustlos, obwohl wir mit den beiden wenigstens auf eine zweistellige Zahl kommen. Er deutet auf einen älteren Chinesen, der einen jüngeren direkt unter der In-diesem-Hause-wurde-Marx-geboren-Gedenktafel fotografiert. Wir sehen uns an. Natürlich! Die Chinesen sind da, wo die Trierer sie nicht zu sehen kriegen, weil sie selbst nie dorthin gehen: im KaMaMu!

Und tatsächlich verschwinden die beiden Chinesen nach dem Foto nicht sofort Richtung Innenstadt, sondern gehen (vielleicht auch nur, weil es zu regnen beginnt) tatsächlich ins Karl-Marx-Museum. Wir also ebenfalls rein ins Gebäude, wo Chinese Nr. 10 und 11 im ersten Raum vorne rechts dabei sind, sich ins Gästebuch einzutragen.

„Wir wollen nur mal kurz durchs Museum, um Chinesen zu zählen“, erklären wir der verblüfften Frau an der Kasse, die kaum glauben kann, dass sie von Besuchern mit lokalem Akzent angesprochen wird. Wir treffen im KaMaMu auf allerhand internationales Publikum, plaudern mit einem netten griechischen Paar, einer Familie aus Spanien und einem Amerikaner. Aber keine … doch! Herrmann entdeckt vor dem Sessel, in dem Marx seinen letzten Atemzug getan haben soll, tatsächlich eine junge Chinesin. „Vielleicht gibt es da, wo eine ist, noch mehr Chinesen“, hofft der Backes Herrmann. „Los, fragen wir, ob sie zu einer Reisegruppe gehört oder eine Individual-Chinesin ist.“

„Are you alone here?“, quatscht der Herrmann die junge Frau recht unvermittelt an. Ich stelle fest, dass es höchstens teilweise stimmt, dass sich aus dem Gesichtsausdruck von Asiaten nicht erkennen lässt, was sie denken. Ich jedenfalls lese im Blick der jungen Chinesin: „Aha, das ist offensichtlich so ein Einheimischer, von denen mein Richtig-Reisen-in-Deutschland-Reiseführer sagt: Keine Panik, wenn ein Trierer Sie anspricht. Die meisten wollen Ihnen keine überteuerten Souvenirs andrehen, sondern sind einfach nur neugierig. Keinesfalls füttern!“

„Are you from China?“, fragt der Herrmann weiter.
„Hongkong“, antwortet die Chinesin.
„Verdammt“, sagt der Herrmann zu mir, „bedeutet das jetzt ja oder nein? Nehmen wir die in die Statistik auf oder nicht?“

Die Studentin merkt, dass der Herrmann im Grunde harmlos ist. Sie erzählt, sie sei Soziologie-Studentin, mache einen Auslandsaufenthalt in England, habe dort das Grab von Marx besucht und dabei erfahren, dass der Karl dieses Jahr 200 geworden ist und es dazu eine Ausstellung in Trier gibt. Also habe sie bei ihrer geplanten Europarundreise noch spontan einen drei viertel Tag Trier miteingeplant, um das Geburtshaus und die Statue zu besichtigen. Sonst entdecken wir keine weiteren Chinesen in den oberen Stockwerken.

Zurück im Eingangsbereich erfahren wir von der Frau an der Kasse, dass die meisten Chinesen gar nicht bis in die oberen Etagen gingen. Viele von ihnen seien auf einer Europarundreise höchstens einen, manchmal nur einen halben Tag in Trier – so genannte Tages-Chinesen. Und wenn für die vier Trierer Museen im Schnitt insgesamt circa zehn Minuten vorgesehen sind, verbringen die meisten Chinesen diese Zeit im KaMaMu.

Wir sehen, dass Chinese Nr. 10 und 11 immer noch mit dem Gästebuch beschäftigt sind. Sie blättern wild darin herum, diskutieren angeregt und deuten lachend auf einzelne Einträge. Als sie weg sind, blättert der Backes Herrmann das Buch durch.

„Sieh dir das mal an!“, ruft er schließlich, als habe er etwas Überraschendes entdeckt.
„Herrmann, kannst du etwa chinesische Schriftzeichen lesen?“
„Natürlich nicht, aber hier haben wir den Beweis.“
„Wofür?“
„Na, dass tatsächlich eine ganze Menge Chinesen nach Trier kommen. Hier, haufenweise chinesische Einträge. Es gibt sie also. Sie sind in Trier. Aber wohin verschwinden sie, sobald sie sich im KaMaMu-Gästebuch verewigt haben?“

Der Herrmann sieht mich entschlossen an: „Wir müssen unser Experiment ausweiten. Vergiss ‚Chinesen zählen’, nächste Woche werden wir: ‚Chinesen verfolgen’!“ (Fortsetzung folgt)

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