Meyer und Marx: Wir sind Marx

„Wenn man in der Fußgängerzone statt in die Schaufenster auch mal in den Himmel schaut“, orakelt der Backes Herrmann, „bekommt man das Gefühl, Trier sei eine große Marx-Familie.“ „Wie kommst du denn darauf?“, ist meine unvorsichtige Reaktion, denn schon zieht mich der Herrmann zur Fleischstraße.

Eine der schönsten Aktionen der gesamten Marx-Ausstellung sind sicherlich die Wir-sind-Marx-Fahnen, die seit Mai über der Fußgängerzone wehen. Der Name Marx ist der Meier-Müller-Schulze von Trier. Wenn Sie mal unter www.dasoertliche.de nachsehen, finden Sie allein für den Stadtbereich Trier knapp drei Dutzend Marx-Einträge. Sucht man im Umkreis von 30 Kilometern, kommt man auf etwa 300 Telefonbucheinträge von Menschen, die mit Nachnamen Marx heißen. Versuchen Sie das mal mit Schulze oder Meier, da bleiben Sie zahlenmäßig locker unter Marx (nun ja, das ist ein bisschen geschummelt – nimmt man Meier mit ‚ei‘ kommt man nur auf 112, bei ‚ey‘ allerdings auf 306. Der ‚ey‘-Meyer liegt also etwa gleichauf mit Marx, wobei es letzteren allerdings vereinzelt ja auch noch in der Schreibung „Marks“ gibt. Schulze dagegen schmiert im Vergleich zu Marx völlig ab).

In Trier und Umgebung ist es also nicht weiter schlimm, Marx zu heißen. Wenn man den männlichen Nachwuchs nicht auf Karl taufen lässt, ist namenstechnisch alles im grünen Bereich. Obwohl: Stellen Sie sich vor, Sie kommen zu einem Bewerbungsgespräch zum Beispiel bei einem Hedgefonds-Unternehmen und sagen dort: „Tach, ich bin der Karl Marx aus Trier“. Da wird sich gleich zeigen, ob der Personalchef Humor hat.
Jedenfalls stelle ich dank Herrmann fest, dass ich es in den vergangenen Monaten völlig versäumt habe, mir die 15 Fahnen mit Fotos von Trierern genauer anzusehen, die Marx heißen.

Aufgespannt in unmittelbarer räumlicher Nähe zu Geschäftsketten, von denen sich manche in der Gewinnoptimierung große Verdienste erworben haben, begegnet uns in der Fleisch- und Brotstraße alle paar Meter der Name Marx – und viele sympathische Gesichter dazu. Unter den Bildern der Marx-Bürger stehen Statements, die diese über ihren (und Karls) Namen gemacht haben. Wir bleiben alle paar Meter stehen und lesen sämtliche Bildunterschriften. Diese Marx-Ausstellung war, das kann niemand leugnen, recht belastend für die Wirbelsäule: In manchem Museum musste man sich tief bücken, um die Erläuterungen zu den Exponaten zu lesen, und in der Fußgängerzone müssen wir alle paar Meter den Kopf tüchtig in den Nacken werfen. Aber es lohnt sich. Ich erfahre beispielsweise, dass es offensichtlich verschiedene Linien der Marx-Sippe gibt. Diejenigen, die nicht zum Anwalts-, Verwaltungsbeamten- und Philosophen-Zweig gehören, sondern zum ärmeren der Moselfischer, betonen dies übrigens recht nachdrücklich.

Außerdem erfahren wir einiges darüber, wie es ist, wenn man so einen prominenten Namen nennen beziehungsweise buchstabieren soll: „Marx? Wie Engels?“ ist dabei eine Gegenfrage, die nicht wirklich überrascht. Und offensichtlich kommt gelegentlich auch die Rückfrage, ob man mit „ihm“ verwandt sei (was offensichtlich bei keinem der „Wir-sind-Marx-Familien“ der Fall ist oder zumindest niemand zugibt).

Besonders sympathisch ist uns eine gewisse Petra Marx. Und zwar nicht nur, weil sie von ihrem Banner einnehmend zu uns herunterlächelt, sondern weil sie obendrein auch noch, wie die Bildunterschrift verrät, in der Engelstraße wohnt („Na, dann wünschen wir der Petra Marx aus der Engelsstraße doch“, versucht der Herrmann einen Scherz zu machen, „dass sie auch noch über Kapital verfügt“).

Ich begreife, was der Herrmann mit der „großen Marx-Familie“ meint. Nachdem wir durch die Fleisch- und Brotstraße durch sind, habe ich das Gefühl, dass Marx – nicht nur der Karl, sondern überhaupt der Familienname – zu Trier gehört wie die Porta, der Viez und Kappes Teerdisch.

„Und was geschieht jetzt mit diesen Foto-Fahnen?“, frage ich den Herrmann. „Die werden wohl bald der Weihnachtsdeko weichen müssen.“ Schade eigentlich. Heißt es dann: Wir waren Marx? Trier ist doch immer noch Marx, auch nach der 200-Jahre-Marx-Ausstellung. Wer braucht schon Lichterketten? Weihnachten ist das Fest der Besinnung und der Familie. Lasst die Marx-Familien einfach weiterhin über uns und über der Fleisch- und die Brotstraße wehen!

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