Meyer und Marx: Von hinten gesehen einen Schritt voraus
Schon vor fünf Jahren – anlässlich des 195. Geburtstages bzw. 130. Todestages – widmete sich Frank Meyer in seiner 16 VOR-Kolumne Karl Marx. Zum runden Jubiläum gibt es wieder genug Anlässe für weitere Beiträge. Dies ist der erste.
Am Samstagmittag gegen halb zwölf fällt dem Backes Herrmann und mir ein, dass der Karl ja Geburtstag hat und gleich Enthüllung ist. Also eilen wir zum Simeonstiftplatz, um einen guten Platz zu ergattern. Aber „Milljunen“ Leute hatten die gleiche Idee und auch das gleiche Timing wie wir. Es gibt einen Riesenstau vor dem abgesperrten Platz. Deshalb beschließen wir, erst einmal auf der Terrasse vom Gasthaus „Theo“ im Stehen einen Viez-Sprudel zu trinken.
Die Idee entpuppt sich als grandios, denn von der Terrasse aus können wir die Enthüllungszeremonie prima beobachten – wenn auch nur von hinten. Wobei „von hinten“ eine Frage der Perspektive ist. Wir haben zwar eine miserable Sicht auf den Rücken und Hinterkopf des verhüllten Bronze-Marx, dafür aber den Oberbürgermeister, die Ministerpräsidentin und den chinesischen Botschafter genau im Blick. Wir bedauern die Honoratioren, weil sie in der gleißenden Sonne sitzen müssen, während wir uns im Schatten einen zweiten Viez-Sprudel gönnen. Um uns herum sind etliche Trierer, die sich offensichtlich noch nicht ganz sicher sind, ob sie stänkern oder stolz sein sollten.
Die Reden haben bereits begonnen, wir verstehen jedoch nichts davon, weil die Lautsprecher nur in Richtung Kutzbachstraße gerichtet sind und sich Trillerpfeifen mit dem Lautsprecherrauschen mischen. Auch sehen können wir die Redner nicht, sie werden vom verhüllten Marx verdeckt. „Wird gerade Deutsch gesprochen oder Chinesisch?“, fragt eine Frau neben mir. „Das einzige, was ich ab und zu verstehe, ist ‚Marx’.“
„Dauert’s noch lang“, fragt Herrmann kurz nach zwölf einen Polizisten, der durch die Absperrung vom Simeonstiftplatz her die Treppe zur Terrasse hochkommt. „Jetzt noch eine Stunde Reden“, meint der Polizist, worauf das hinter uns stehende Trierer Ehepaar beschließt, erst mal was essen zu gehen. Und der Herrmann nickt mir auffordernd zu: „Dann ist ja genug Zeit für noch einen Viez-Sprudel.“ Der Mann vor uns an der Balustrade bedauert die Ministerpräsidentin, der zwar ein Glas Wasser gereicht wird, die aber isotonisch schlechter versorgt ist als wir mit unserem Apfel-Getränk.
Wer wirklich Glück hat, wohnt an diesem Tag – mit Balkon – sowieso am Simeonstiftplatz 1, Ecke Kutzbachstraße. Von dort aus hat man einen noch besseren Blick auf den Verhüllten als die Kameras des chinesischen Staatsfernsehens und steht dabei im Schatten.
Um die Leute beim Warten bei Laune zu halten, behauptet der Backes Herrmann, er kenne schon die Mathe-Aufgabe für das diesjährige Abi an den Trierer Schulen: „Karl Marx war etwa 1,65 groß. Der neue Bronze-Karl misst 5 Meter 50: Um das Wievielfache überragt die Statue das historische Original?“ – „Um etwa dreieinhalb Gysis“, antwortet ein Schnellrechner aus der Menge. Ich zucke zusammen, weil ich nicht weiß, ob es politisch korrekt ist, Gysis Größe, und sei es auch nur die körperliche, derart direkt mit dem neu erschaffenen Marx zu vergleichen. Rein rechnerisch kommt es allerdings hin.
Etliche Reden und einen weiteren Viez-Sprudel später bauscht sich endlich das rote Tuch über Karls Haupt vielversprechend auf – darunter ist es inzwischen wahrscheinlich so heiß, dass die Bronze kurz vor dem Schmelzpunkt ist. Das Tuch gleitet nach hinten über Karls Rücken zu Boden, und um mich herum wird applaudiert und gejubelt. Selbst der Herrmann, der wenige Tage zuvor noch gezweifelt hatte, ob so ein großer „Oschi“ zu Trier passt, klatscht begeistert in die Hände. Eine ältere Frau neben mir meint mit unüberhörbar trierischem Akzent: „Also jetzt finde ich’s doch gut.“ Wieso „doch“? Und im Gegensatz zum Herrmann hat sie sich auf diesen Moment nicht einmal mit mehreren Viez-Sprudeln vorbereitet.
Als die Sperren beseitigt sind und sich die Schar geladener Gäste verläuft, schlendern Herrmann und ich runter zum Platz, wo die Jazzband von Marx’ altem Gymnasium eine wunderbare Version von „Die Internationale“ spielt. Zu Füßen der Statue hat bereits eine Selfie-Orgie begonnen. „Ich weiß“, meint der Backes Herrmann gerührt. „Es kommt ja nicht auf die Größe an, aber unser Kalle dürfte keinen Zentimeter kleiner sein. Ich finde, das passt so.“
Ehrfürchtig gehen wir um den Bronze-Koloss herum. Mir fällt auf, dass Kalle nicht stehend dargestellt wird, sondern schreitend. Von hinten betrachtet, ist Marx uns einen Schritt voraus. Von vorne allerdings scheint es so, als ob er unbeirrt über uns wegschreiten würde, falls wir ihm nicht rechtzeitig aus dem Weg gingen. Und von der Seite … Ja, von der Seite wirkt er besonders dynamisch mit seinen aufwehenden Mantelschößen, dem sicheren Schritt und seinem überzeugten Blick nach vorne. Marx steht nicht, er ist auf dem Weg.
„Aber auf dem Weg wohin?“, fragt mich der Backes Herrmann. Wir folgen Kalles Blick und sehen in die Richtung, in die er schreitet. Wohin will er? Zum Sushi-Laden gegenüber? Doch bestimmt nicht zum Beauty-Institut? Da packt der Herrmann mich am Arm. Er weiß, wo Kalle, wenn er nicht aus Bronze wäre und wirklich losgehen könnte, hinwollte: Zur gegenüberliegenden Bushaltestelle. Aber warum? Was hat er dort entdeckt? Ah, natürlich, welche Linie hält dort? Genau: die 13. Und welche Endhaltestelle hat die 13? Richtig: Karl-Marx-Haus!