Meyer und Marx: Wenn Marx rot ist, geht es keinen Schritt weiter
Neulich stieg ich an der Bushaltestelle Simeonstiftplatz aus und wollte gerade die Straße Richtung Fußgängerzone überqueren, da hörte ich, wie neben mir eine Frau sagte: „Wenn der Onkel grün wird, dürfen wir gehen.“
Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Meine linke Fußspitze zeigte schon über die Bordsteinkante, aber natürlich traute ich mich keinen Zentimeter weiter. Und zwar aus zweierlei Gründen:
1. Wegen des Tonfalls, mit dem die Frau „dürfen wir gehen“ sagte. Sie hielt ein höchstens fünfjähriges Kind an der Hand und die Fußgängerampel war rot. Ich wäre doch beinahe bei Rot über die Ampel gegangen! Es war zwar weit und breit kein Auto zu sehen, aber wir sind in Trier. Und da gilt die Regel: „Bei Rot stehen, bei Grün gehen“ – auch wenn der nächste Wagen, der hier vorbeikommen wird, gerade erst in Ehrang losfährt. Ich schämte mich. Ich bin ein schlechtes Beispiel für die Kinder. Daher der vorwurfsvolle Ton der Mutter, mit dem sie – so laut, dass man es bis zur gegenüberliegenden Straßenseite hören konnte – „dürfen wir gehen“ sagte. Das galt nicht dem Kind, sondern mir: Sie werden es doch nicht wagen, in Anwesenheit eines Kindes bei Rot über die Straße zu laufen!
Und 2.: „Der Onkel.“ Welcher Onkel? Die Mutter geht mit dem Kind an der Hand los. Ich schaue auf die grüne Ampel. Das Ampelmännchen hat einen langen Bart, trägt einen Gehrock und ein Buch unterm Arm – und ich verstehe. Hätte die Mama gesagt: „Solange der Marx rot ist, geht’s nicht weiter“, hätte die Gefahr bestanden, dass das Kind fragt: „Mama, wer ist denn Marx?“ Oder schlimmer: „Warum hat sich das Ampelmännchen nicht rasiert, ist das ein Hipster?“ (ja, solche Wörter kennen Fünfjährige heutzutage). Oder schlimmstenfalls: „Was für ein Buch trägt denn das Ampelmännchen da unterm Arm?“
Ich möchte an dieser Stelle unbedingt klarstellen, dass mir nichts ferner liegt, als Johannes Kolz für dessen Design des Ampelmärxchens zu kritisieren – es gefällt mir sehr gut. Aber Fragen bleiben trotzdem offen, z. B. die nach besagtem Buch. Ist das etwa das „Kapital“? Oder das „Manifest“? Als ich tags darauf mit dem Backes Herrmann die Marxampel an der Stresemannstraße überquerte, meinte der Herrmann, dass das grüne Ampelmärxchen aussehe wie früher sein Onkel Wilhelm, wenn der mit dem „Volksfreund“ unterm Arm aufs Klo ging. „So dynamisch wie das Ampelmärxchen?“ „Genau so“, bestätigte der Herrmann. „Onkel Wilhelm hat es genossen, ausgiebig seinen ,Volksfreund’ zu lesen. Und der einzige Ort, an dem er das in Ruhe tun konnte, war eben …“ „Aber das da auf der Ampel soll doch sicher nicht der ,Volksfreund’ sein“, lenkte ich das Gespräch rasch wieder in sichere Bahnen.
Wir ließen die Ampel ein paarmal von Rot auf Grün springen, um uns das Buch genauer anzusehen und kamen überein, dass es fürs ‚Kapital’ zu dünn und fürs ‚Manifest’ zu dick erschien. Wahrscheinlich handelt es sich um eine stark stilisierte Abbildung des „Meine ersten 270 Wörter auf Trierisch“-Wörterbuchs. „Wenn er auf Rot springt“, nörgelt der Herrmann, „sieht er allerdings ein bisschen aus wie der Gekreuzigte – he, das wäre doch mal eine gute Idee für die nächste Heilig-Rock-Wallfahrt. Da könnte man doch …“ „Danke, Herrmann, darüber reden wir dann, wenn es so weit ist … in 30 Jahren oder so.“
Heute Morgen stehe ich wieder an der Ampel. Nicht zufällig. Ich will meinen Fauxpas von neulich wieder gutmachen. Also warte ich am Simeonstiftplatz, bis eine Mutter mit einem etwa sechsjährigen Jungen die Straße überqueren will, stelle mich brav an die rote Ampel und versuche, den Kleinen zu belehren: „So ist es recht: Bei Rot stehen, bei Grün gehen. Und schau mal: Der Onkel da auf der Ampel, das ist der Karl Marx.“
Die Mutter sieht mich erschrocken an, zieht den Bub rasch an sich heran und greift dabei mit der Hand schützend so um seinen Kopf, dass sie ihm das mir zugewandte Ohr zuhält. Mit Absicht? Sie sieht mich vorwurfsvoll an, und ich lese aus ihrem Blick: „Sagen Sie doch in Gegenwart eines Kindes nicht solche Wörter.“
Zum Glück wird Marx grün und die Mutter beeilt sich, mit dem Kleinen zur anderen Straßenseite zu kommen. Ich traue mich nicht, hinterherzugehen, obwohl es mich interessieren würde, ob der Bub auf der anderen Straßenseite fragt: „Mama, wer ist denn der große Mann da auf dem Sockel?“