Shades of Blue
Wo gibt es das blaueste Wasser der Welt? Malediven? Dom Rep? Unsinn! Das blaueste Blau findet ihr im Trierer Nordbad.
Eigentlich war es eine gute Idee vom Backes Herrmann: „Lass uns mal schwimmen gehen, bevor der Sommer vorbei ist.“ Aber muss das wirklich morgens um acht sein? Und ich habe noch Glück, dass der Herrmann nicht schon um sechs da sein wollte. Dann öffnet nämlich das Nordbad. Um acht haben die Frühschwimmer bereits 30 Bahnen gezogen – das ist gefühlt die Strecke von der Römerbrücke bis Konz.
Offensichtlich erwartet man um diese Uhrzeit im Nordbad keine Nicht-Stammschwimmer, jedenfalls ist die Kasse unbesetzt. Aber wir trauen uns nicht, ohne zu bezahlen, reinzugehen. Am Tisch hinter der Kasse sitzen kaffeetrinkende Frauen, die ihr Schwimmpensum schon hinter sich haben. Sie mustern uns wie Türsteher eines exklusiven Clubs. Wirken wir cool genug für bettflüchtige Frühsportler? Anscheinend ja. Eine der Badeanstaltsbenutzerinnen ruft: „Moooniii, Kundschaft“, dann nippt sie weiter an ihrem Kaffee.
Moni taucht von irgendwo aus dem Umkleidebereich auf und fragt, ob wir zum ersten Mal hier seien. Sieht man das so deutlich? Sie zeigt uns den Weg zur Herren-Sammelumkleide. Oder heißt es „Sammel-Herrenumkleide“? Jedenfalls steht man, sobald man umgekleidet ist, vor einer Wand, auf der in verschnörkelter Schrift zu lesen ist: „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum“.
„Recht haben die“, meine ich zum Herrmann und will umkehren, um mich wieder anzuziehen, denn ich träume nicht davon, in aller Herrgottsfrühe nach Konz zu schwimmen. Aber der Herrmann überzeugt mich, es wenigstens zu probieren.
Zuerst gehen wir die Treppe hoch zum Bistro. Vielleicht hat das schon geöffnet, dann könnte man sich mit einem Bier Mut antrinken. Aber keine Chance für Frühtrinker. Betrieb ist um diese Zeit nur im Wasser. Der Blick von der Bistro-Terrasse entschädigt jedoch für den Aufstieg. Rechts sehen wir das schmutzige Blau der Mosel, darüber einen Azurhimmel mit weißen Wölkchen, und links das kristallklare Mehr-als-Malediven-Dom-Rep-Blau des Schwimmerbeckens.
Auf einer Holzbank am Beckenrand haben einige Silberhaarige, die für ihr Alter figürlich recht gut beieinander sind, ein üppiges Frühstück ausgebreitet: mit Brötchen, hartgekochten Eiern, Rohessern, Salami und Kaffee. Ich bilde mir ein, aus dem ein oder anderen Rucksack ein Dosenbier herausragen zu sehen. Ein echtes Nordbad-Frühstück für Herren über … für Herren, die morgens um sechs schwimmen gehen und danach Zeit haben, fürstlich zu frühstücken (so formuliert klingt das nach einer Lebensphase, vor der man sich nicht fürchten muss). Ich frage den Herrmann, warum wir nicht so ein Frühstück mitgebracht haben, aber er meint, er wolle Sport treiben, um abzunehmen. Ich schaue auf die reich gedeckte Beckenrandbank und schätze, dass man tatsächlich 30 Bahnen schwimmen muss, um in der Kalorienbilanz auf eine schwarze Null zu kommen.
In der kühlen Morgenluft beginnen wir zu frösteln. Vom Beckenrand aus wirkt das blaueste Blau doch recht kühl, und man schaut uns schon argwöhnisch an. Also ist es am besten, es endlich hinter uns zu bringen. Wir duschen uns ab und … wissen nicht, wo wir eigentlich ins Wasserbecken einsteigen sollen. Die gut tausend Quadratmeter große Wasserfläche ist nämlich in vier Bereiche aufgeteilt, und uns ist klar, dass wir nicht einfach irgendwo reindürfen. Das Schwimmbecken ist ein harmonisch funktionierender Mikrokosmos: rechts drei abgegrenzte Bahnen, zum vierten Teil kommen wir später.
Ein kurzer Blick verrät: Wer die äußere Bahn benutzt, ist nicht zum Spaß hier. Es wird gekrault – und das erschreckend zügig. Diesen Bereich sollten wir meiden. Die Schwimmer dieser Bahn haben ihr Revier markiert. Keine Bange, das bedeutet nicht, dass sie ins Becken gepinkelt haben. Die kraulen aber so selbstbewusst, dass uns klar ist: auf der Bahn würden wir uns blamieren.
Auch die Benutzer der zweiten Bahn gehören eindeutig zur Kategorie Wir-meinen-es-ernst-Schwimmer, aber sie sind nicht so schnell unterwegs wie die ganz rechts. Und auf der dritten Bahn schwimmen die, die nicht kraulen können, sondern brust- oder rückenschwimmend vorankommen und von der Römerbrücke bis Konz einen halben Tag brauchen. Aber auch ihnen sieht man an: Sie werden diese Strecke bewältigen. In allen drei Bahnen geht es erfreulich unaggressiv zu. Man nimmt Rücksicht aufeinander und überholt bei Bedarf, ohne dabei übertrainiert zu wirken.
Herrmann und ich entscheiden uns schließlich für die großflächige vierte Zone, den Bereich der Senkrechtschwimmer oder Stehstrampler. Rasch freunden wir uns mit diesem Schwimmstil an, der im Wesentlichen so funktioniert, dass der Körper senkrecht im Wasser steht, man vorne irgendwie mit den Armen rudert und unten alibimäßig leicht mit den Füßen paddelt. Der Kopf bleibt dabei ständig über Wasser. Ein Mann schwimmt sogar mit einer Sonnenmütze aus Stoff – sie kriegt keinen Tropfen Wasser ab. So schafft man etwa fünf Meter pro Minute. Dieser Stil ermöglicht es, wenn man ihn perfekt beherrscht, beim Schwimmen zu reden.
Die Sprechschwimmer kommen gewöhnlich in Dreier- oder Viererreihen daher, und wenn man in wenigen Metern Abstand entfernt von ihnen stehschwimmt, hört man lauter nützliche Dinge. Nach der ersten geschwommenen Bahn wissen wir zum Beispiel, wie Eintracht Trier es in wenigen Jahren in die 3. Liga schaffen könnte (der SVE-Vereinsvorstand sollte unbedingt mal zum Frühschwimmen gehen), dass es sich lohnt, mit dem City-Skyliner vor der Basilika mal über die Dächer von Trier zu schauen, und dass man sich in der „Martinsklause“ jetzt Flieten vom „Aom Ecken“ rüberbringen lassen kann. Außerdem erfahren wir, bei welchem Metzger man die Fleischeinlage für Gemüseeintopf besorgen sollte (inklusive des kompletten Rezepts), sowie die Gründe, warum Wilma ihre Rückenschmerzen nicht loswird und wieso Günther seine Stelle kündigen sollte. Die besprochenen Personen sind offensichtlich selbst nicht anwesend, sonst würden ihre Schicksale wohl nicht in einer Lautstärke diskutiert werden, dass auch die Wassergymnastiker im Nichtschwimmerbereich alles mitkriegen: „Ich habe ihm schon immer gesagt, das ist nix für ihn…“ oder „… aber auf mich hört sie ja nicht“.
Der Herrmann und ich schwimmen, ohne zu reden. Wir haben genug damit zu tun, den Kopf über Wasser und die Haare trocken zu halten. Wir stehschwimmen noch zwei Bahnen und fühlen uns danach, als wären wir von der Römerbrücke nach Saarburg geschwommen. Sonderbarerweise ist das ein befriedigendes Gefühl. Wir wärmen uns auf der Bistro-Terrasse, wo es immer noch nix zu trinken gibt, in der kräftiger werdenden Morgensonne auf und schauen hinunter auf das blaueste Schwimmbeckenwasser der Welt. Hätten wir jetzt noch Rohesser und Dosenbier dabei, wie die Silberhäupter am Beckenrand, wäre das Leben perfekt. Und ich beginne zu verstehen, dass das mit dem „Lebe deinen Traum“ gar nicht so albern ist, wie ich zuerst dachte. Ich glaube, nächstes Jahr kaufen wir uns eine Dauerkarte und lernen erst mal, beim Schwimmen zu sprechen.
Nachtrag: Apropos nächstes Jahr: Das große Schwimmerbecken wird in absehbarer Zeit renoviert und dabei soll der Anstrich der Beckenfolie, das blaueste Blau, ersetzt werden durch ein zeitgemäßes Edelstahlsilber. Nun gut, das passt immerhin zur Haarfarbe der Frühschwimmer.