Meyer und Marx: Chinesen verfolgen
„Vor fast 2000 Jahren wurden in Trier Christen verfolgt, jetzt Chinesen. Und das auch noch von uns“, beschwere ich mich beim Backes Herrmann. Der hat kein Problem damit, chinesische Touristen zu stalken: „Die merken doch gar nicht, dass wir ihnen quer durch die Stadt folgen. Sieh uns doch an: unauffällige Klamotten, Durchschnittsgesichter – für Chinesen sehen bestimmt alle Trierer gleich aus.“
Der Herrmann hat sich in den Kopf gesetzt, herauszubekommen, was die wenigen Tages-Chinesen, die man so sieht, in Trier eigentlich machen. Vorletzte Woche haben wir im Gästebuch des Karl-Marx-Museums Indizien dafür gefunden, dass zumindest im KaMaMu häufiger Chinesen auftauchen (siehe Kolumne „Chinesen zählen“ vom 8. Juli).
Aber wo gehen sie hin, nachdem sie ein Selfie unter der Karl-Marx-Gedenktafel gemacht haben? Einen entscheidenden Hinweis erhielten wir von einer KaMaMu-Mitarbeiterin. Sie verriet uns, dass manche chinesischen Besucher fragen, wie sie denn zum Karl-Marx-Denkmal kommen. Die Mitarbeiterin deutete auf einen handgezeichneten Lageplan an der Wand hinter der Kasse: „Viele sagen dann: ‚Hätten wir das gewusst! Direkt bei der Porta Nigra, da kommen wir gerade her‘.“
Hieran sieht man, wie weise es war, die Statue nicht ins Karl-Marx-Viertel zu stellen. Viele Chinesen hätten sonst höchstens 60 Meter Trier zu sehen gekriegt. So aber müssen sie einmal quer durch die Fußgängerzone, um beide Chinese-in-Trier-Pflichtselfies zu absolvieren. Man fragt sich, ob man den Bronze-Marx nicht noch besser in Zurlauben oder in der Paulinstraße hätte aufstellen sollen.
Dass ich jetzt eine Gruppe chinesischer Touristen verfolge, kommt daher, dass der Herrmann mich überredet hat, schon morgens um halb 9 unauffällig vorm KaMaMu herumzulungern. Jemand sagte ihm, der Chinese an sich sei früh an, ausgeschlafen und hake schon Sehenswürdigkeiten ab, während der Europäer noch vorm Frühstückskaffee sitze. Ich will das dem Herrmann nicht glauben … aber tatsächlich hält um 8:40 Uhr ein Reisebus vorn an der Brückenstraße und heraus stürmen zwei, drei Dutzend potenzieller Chinesen, die zielstrebig aufs KaMaMu zueilen. Dass es tatsächlich Chinesen sind (und nicht z. B. Koreaner oder Vietnamesen) stellt der Herrmann dadurch fest, dass er einen aus der Touristengruppe mit einem fröhlichen „Ni hao“ anquatscht. Völlig unüberrascht grüßt der Angesprochene zurück. Wahrscheinlich hält er es für eine selbstverständliche Serviceleistung, dass ihm Trierer Passanten ein ‚Hallo‘ auf Chinesisch zurufen.
Herrmann erklärt dem Chinesen, der ganz passabel Englisch spricht, dass das KaMaMu erst in 20 Minuten öffnet. Aber das interessiert offensichtlich niemanden in der Reisegruppe. Die Ich-war-da-Beweisfotos sind flugs gemacht – manche fotografieren von der Straße aus und zwingen einen Linie 1-Bus zum Anhalten (der Busfahrer hupt nicht einmal, er kennt das wohl schon) – und ruckzuck bewegt sich der ganze Tross, angetrieben von einer chinesischen Reiseleiterin, schon in Richtung Fußgängerzone.
Genau 17 Minuten später sind sie an der Porta, obwohl sie der Reiseleiterin drei offensichtlich nicht eingeplante Minuten für Extra-Fotos am Petrusbrunnen auf dem Hauptmarkt abschwatzten. Dann geht’s ohne nach links oder rechts zu schauen weiter. Niemand hat mitbekommen, dass es nur wenige Meter neben der Strecke auch noch einen Dom gibt.
An der Porta verordnet die Reiseleiterin eine zehnminütige Pause, die für freies Fotografieren rund um das römische Stadttor verwendet werden darf. Dann pfeift sie – buchstäblich, denn sie kann auf den Fingern pfeifen wie ein Olewiger Lausert – die Reisegruppe wieder zusammen und treibt die Herde mit Blick auf die Uhr zur Marx-Statue, wo ‚Milljuhnen‘ Fotos gemacht werden.
Mir ist klar, dass zumindest einigen der Chinesen inzwischen aufgefallen sein muss, dass wir seit dem KaMaMu in kurzem Abstand hinter ihnen hertrotten. Wahrscheinlich unterhalten sie sich bereits darüber, wieso sie vom Trierer Geheimdienst verfolgt werden. Also gehe ich in die Offensive, biete einem Pärchen der Reisegruppe an, ein Foto von ihnen unter den Rockschößen von Marx zu machen. Bevor sie einen Euro Trinkgeld hervorkramen können, outen der Herrmann und ich uns als freundliche, interessierte Trierer, die gerne wissen würden, was unsere Gäste denn von Trier halten.
Das Pärchen ruft weitere Chinesen aus der Gruppe zu Hilfe (wahrscheinlich so: „He, Leute, kommt mal her, hier sind zwei Eingeborene, die echte Chinesen sehen wollen“) und schließlich frage ich, um den Gästen ein gutes Gefühl der Nützlichkeit und Überlegenheit zu geben, was denn da auf dem Sockel der Statue unter dem Namen Karl Marx auf Chinesisch geschrieben steht. Die Chinesen sehen mich mitleidig an („Kein Wunder, dass Marx sich schon als 17-Jähriger hier weggemacht hat, die Leute hier – zumindest die vom örtlichen Geheimdienst – scheinen nicht sonderlich helle zu sein“). Einer erklärt uns: „Unter Karl Marx steht: Karl Marx, nur eben auf Chinesisch.“ Er zeigt noch mal auf die chinesischen Schriftzeichen und buchstabiert: „Kall Malx“.
„Wow“, sagt der Herrmann, es gibt ein eigenes chinesisches Schriftzeichen für Marx.“
„Wo gehen Sie denn als nächstes hin?“, versuche ich, die Konversation in Gang zu halten. „Und wo essen Sie zu Mittag?“ „In Luxemburg!“, antworten die Chinesen vergnügt. „Danach geht’s weiter nach Paris.“
Der Herrmann hält das für einen Witz, und ich vermute ein sprachlich bedingtes Missverständnis, aber schon scheucht die chinesische Reiseleiterin – es ist jetzt 09:25 Uhr – ihre Landsleute zur Franz-Ludwig-Straße. Dort hält der Bus, der die Gruppe vorhin in der Nähe vom KaMaMu rausgelassen hat. Schon entschwinden die Chinesen stadtauswärts: nach genau 45 Minuten Trier (und immerhin 1,2 Kilometern Fußweg).
Keinem von ihnen ist bewusst, dass es hier einen römischen Kaiserpalast, ein Amphitheater und hervorragenden Wein gibt. Sowie mindestens zwei kontaktwillige Einheimische.